Europäischer Gerichtshof: Kein Untergang des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub mit dem Tod des Arbeitnehmers

19.01.2015

Orientierungssatz

Der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub geht mit seinem Tod nicht unter. Das Unionsrecht steht nationalen Vorschriften und Gepflogenheiten entgegen, die für den Fall des Todes des Arbeitnehmers die Abgeltung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub ausschließen (EuGH, Urteil vom 12.6.2014 - C-118/13, Bollacke).

Sachverhalt

Der verstorbene Ehemann der Klägerin, Gülay Bollacke,  war seit 1998 bei der Beklagten beschäftigt. Von 2009 an war er aufgrund einer schweren Erkrankung mit Unterbrechungen arbeitsunfähig. Bis zu seinem Tod im November 2010 hatte er unstreitig einen Anspruch auf 140,5 Tage Erholungsurlaub gegen die Beklagte. Die Klägerin verlangte von der Beklagten Abgeltung der nicht genommenen Urlaubstage.

 

Entscheidung

Das Begehren der Klägerin wurde in erster Instanz unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 20.9.2011 - 9 AZR 416/10) mit der Begründung zurückgewiesen, dass bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des Arbeitnehmers ein Urlaubsabgeltungsanspruch nicht entstehe. Das in der Berufungsinstanz befasste Landesarbeitsgericht Hamm setzte das Verfahren wegen unionsrechtlicher Bedenken an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus und wandte sich im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens an den Europäischen Gerichtshof (LAG Hamm, Beschluss vom 14.2.2013 - 16 Sa 1511/12).

Es stellte sinngemäß die Frage, ob einzelstaatliche Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten gegen Unionsrecht verstoßen, nach denen ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub untergeht, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Darüber hinaus fragte das Landesarbeitsgericht den Gerichtshof, ob ein solcher Abgeltungsanspruch aus unionsrechtlicher Sicht von einem Antrag des Betroffenen im Vorfeld abhängen darf.

Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Tod eines Arbeitnehmers nicht dazu führt, dass der Anspruch des verstorbenen Arbeitnehmers auf Abgeltung des bezahlten Jahresurlaubsanspruchs untergeht. Dieser Zahlungsanspruch sei zudem nicht davon abhängig, ob der betroffene Arbeitnehmer zuvor einen Antrag auf Abgeltung gestellt habe oder nicht. Zur Begründung der Entscheidung verweist der Gerichtshof darauf, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, der für Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen vorsieht, nach seiner ständigen Rechtsprechung einen besonders bedeutsamen Grundsatz des Sozialrechts normiert. Dabei seien die Ansprüche auf Jahresurlaub und auf Vergütung während des Urlaubs zwei Aspekte desselben Anspruchs. Um die praktische Wirksamkeit dieses unionsrechtlichen Anspruchs sicherzustellen, sei es unerlässlich, einen finanziellen Ausgleich auch dann vorzusehen, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers ende.  Da die Richtlinie eine solche Voraussetzung nicht enthalte, sei ein Abgeltungsanspruch zudem nicht von einem vorherigen Antrag des betroffenen Arbeitnehmers abhängig.

Anmerkung

Mit der Vorlage des Landesarbeitsgerichts Hamm lag dem Europäischen Gerichtshof erneut eine Grundfrage des Urlaubsrechts zur Entscheidung vor. Die auf den ersten Blick befremdlich wirkende Entscheidung ("Tote haben einen Anspruch auf Urlaub") führt die Rechtsprechungslinie des Europäischen Gerichtshofs im Ergebnis fort. So hatte der Gerichtshof bereits entschieden, dass es gegen Unionsrecht verstößt, Arbeitnehmern am Ende des Arbeitsverhältnisses keine Urlaubsabgeltung zu gewähren, wenn sie krankheitsbedingt den bezahlten Jahresurlaub nicht antreten konnten (EuGH, Urteil vom 20.1.2009 - C-350/06 und C-520/06, Schultz-Hoff u.a.). Auch in dieser sog. "Schultz-Hoff"-Entscheidung stellte der Gerichtshof maßgeblich darauf ab, dass der Anspruch auf Jahresurlaub untrennbar mit dem Anspruch auf Vergütung während des Urlaubs verbunden sei, wodurch der Gerichtshof im besonderen Maße den Vermögenswert erworbener Urlaubsansprüche betonte. Durch die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache "Bollacke" wurde dieser Vermögenswert nunmehr darüber hinausgehend vererblich gestellt.

Wie schon die Rechtsprechung zum Urlaubsanspruch langzeiterkrankter Arbeitnehmer bedeutet die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache "Bollacke", eine weitere Wende für das deutsche Urlaubsrecht. Bislang galt, dass mit dem Tod des Arbeitnehmers sein Urlaubsanspruch erlischt und sich nicht in einen - möglicherweise vererbbaren - Abgeltungsanspruch nach § 7 Abs. 4 BUrlG umwandelt. Dies hatte das Bundesarbeitsgericht zuletzt - ohne diese Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof trotz der im Verfahren geäußerten unionsrechtlichen Bedenken vorzulegen - mit Urteil vom 20. September 2011 (9 AZR 416/10) entschieden. Hintergrund dieser Rechtsprechung war die Erwägung, dass der durch den Urlaubsanspruch maßgeblich angestrebte Erholungszweck nach dem Tod des Arbeitnehmers nicht mehr erreicht werden könne.

Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können Erben eines verstorbenen Arbeitnehmers nach der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nunmehr dessen Ansprüche auf Urlaubsabgeltung geltend machen. Im unmittelbaren Nachgang der Entscheidung dürften die praktischen Auswirkungen der Entscheidung allerdings aus zwei Gründen begrenzt sein. Denn Ansprüche auf Urlaubsabgeltung unterliegen nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht nur der regel-mäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren gemäß §§ 195, 199 BGB, sondern auch etwaigen im Arbeits- oder Tarifverträgen enthaltenen Ausschlussfristen, die regelmäßig nur wenige Monate betragen. Erben können sich dabei hinsichtlich der Versäumung dieser Fristen - wie das Bundesarbeitsgerichts in vergleichbaren Fällen entschieden hat (BAG, Urteil vom 9.8.2011 - 9 AZR 365/10) - allerdings spätestens seit Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens des Landesarbeitsgerichts vom 14. Februar 2013 nicht mehr auf einen durch die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausgelösten Vertrauensschutz berufen.

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