Verlust des Sonderkündigungsschutzes wegen wahrheitswidriger Beantwortung der Frage nach einer Schwerbehinderung

10.07.2012

[] Nach einer Dauer des Arbeitsverhältnisses von mindestens sechs Monaten ist der Arbeitgeber dazu berechtigt, den Arbeitnehmer nach einer Schwerbehinderung bzw. einem diesbezüglich gestellten Antrag zu befragen. Insbesondere im Vorfeld einer beabsichtigten Kündigung darf der Arbeitgeber die Frage nach der Schwerbehinderung stellen. Verneint der Arbeitnehmer die Frage wahrheitswidrig, kann er sich in einem folgenden Kündigungsschutzprozess auf den Sonderkündigungsschutz wegen der Schwerbehinderung nicht berufen. (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16.2.2012 – 6 AZR 553/10)

Sachverhalt

Zur Vorbereitung eines Personalabbaus befragte der Arbeitgeber mittels ausgegebener Fragebögen sämtliche Arbeitnehmer des Betriebes u. a., ob bei ihnen eine Schwerbehinderung oder Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen vorliegt oder ein entsprechender Antrag gestellt wurde. Der schwerbehinderte Kläger beantwortete die Fragen jeweils wahrheitswidrig mit „nein“. Nach Maßgabe der durchgeführten Sozialauswahl sprach der Arbeitgeber, für den die Schwerbehinderung des Klägers auch nicht offensichtlich erkennbar war, daher in Unkenntnis der Schwerbehinderung gegenüber dem Kläger eine Kündigung aus, ohne zuvor die Zustimmung des Integrationsamts einzuholen. Seine Kündigungsschutzklage stützte der Kläger insbesondere darauf, dass er als schwerbehinderter Mensch Sonderkündigungsschutz genieße, weshalb die Kündigung ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamts ohne weiteres unwirksam sei.

Entscheidung

Das Bundesarbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Da der Kläger die Frage nach der Schwerbehinderung wahrheitswidrig beantwortet habe, sei es ihm verwehrt, sich auf den Sonderkündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch zu berufen. Hierdurch habe er den Arbeitgeber treuwidrig in der falschen Annahme bestärkt, es bedürfe vor Ausspruch der Kündigung keiner Beteiligung des Integrationsamts. Dem Arbeitgeber habe auch ein Fragerecht hinsichtlich der Schwerbehinderung und somit ein Recht auf wahrheitsgemäße Auskunftserteilung zugestanden. In Anbetracht der beabsichtigten Kündigung stand ihm ein berechtigtes Interesse an einer wahrheitsgemäßen Beantwortung der Frage zu. Auf die erfragte Information war der Arbeitgeber angewiesen, um sich rechtstreu verhalten zu können und die Schwerbehinderung im Rahmen der sozialen Auswahl zu berücksichtigen sowie ein erforderliches Zustimmungsverfahren vor dem Integrationsamt einzuleiten.

In diesem Zusammenhang weist das Bundesarbeitsgericht zu Recht darauf hin, dass eine Schwerbehinderung oder Gleichstellung nach Ablauf der Wartezeit von sechs Monaten stets einen umfangreichen Pflichtenkatalog für den Arbeitgeber begründet. Ab diesem Zeitpunkt habe der Arbeitgeber daher regelmäßig ein schützenswertes Interesse daran, zu erfahren, ob ein von ihm beschäftigter Arbeitnehmer schwerbehindert oder gleichgestellt ist. Der Arbeitgeber dürfe daher die Frage nach einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung jedenfalls dann zulässigerweise stellen, wenn er diese Information benötigt, um sich rechtstreu verhalten zu können. Die Frage nach der Schwerbehinderung oder Gleichstellung sei daher nicht nur im Vorfeld einer Kündigung zulässig. Als weitere Beispielsfälle nennt das Bundesarbeitsgericht vielmehr auch die Pflichten zur behinderungsgerechten Beschäftigung, zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe oder zur Gewährung von Zusatzurlaub. Auch um diesen Pflichten gerecht werden zu können, sei der Arbeitgeber regelmäßig berechtigt, den Schwerbehindertenstatus seiner Arbeitnehmer zu erfragen.

Anmerkung

Der Sonderkündigungsschutz schwerbehinderter und gleichgestellter Arbeitnehmer besteht unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber dies zuvor mitgeteilt hat oder nicht. Weist der Arbeitnehmer innerhalb einer Frist von drei Wochen nach Zugang der Kündigung den Arbeitgeber auf den bestehenden Sonderkündigungsschutz hin, was meist im Rahmen der Kündigungsschutzklage geschieht, ist die ohne Zustimmung des Integrationsamts erfolgte Kündigung unwirksam. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Integrationsamt ist nicht möglich, weshalb der Mangel der Kündigung nicht heilbar ist. Dem Arbeitgeber bleibt allein übrig, nach der Mitteilung des Arbeitnehmers ein Zustimmungsverfahren einzuleiten, um nach dessen Abschluss eine erneute Kündigung auszusprechen. Der Arbeitnehmer, der seinem Arbeitgeber die Schwerbehinderung bislang verschwiegen hatte, kann somit letztlich einen längeren Fortbestand des Arbeitsverhältnisses erreichen, indem er den Arbeitgeber mit der ersten Kündigung zunächst „ins Leere“ laufen lässt.

Das Bundesarbeitsgericht hat nun erfreulicherweise klargestellt, dass der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung berechtigt ist, einen möglichen Sonderkündigungsschutz aufgrund Schwerbehinderung oder Gleichstellung zu erfragen. Arbeitgebern ist daher zu raten, nach Ablauf von sechs Monaten seit Einstellung den Arbeitnehmer hinsichtlich einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung zu befragen, um so über eine hinreichend sichere Datengrundlage zu verfügen. Im Vorfeld eines Personalabbaus sollte diese Datenlage jedoch „aufgefrischt“ werden, um über aktuelle Informationen zu verfügen. Der Gefahr, dass ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber die anerkannte Schwerbehinderung oder Gleichstellung verschweigt, um den Sonderkündigungsschutz erst im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens praktisch als „Ass im Ärmel“ ausspielen zu können, kann damit wirksam vorgebeugt werden.

Dr. Frank Wilke

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