Die virtuelle Hauptversammlung – gekommen um zu bleiben oder künftiges Schattendasein?

Köln/München, 01.08.2022

Am 7. Juli 2022 hat der Bundestag den Gesetzesentwurf der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften (BT-Drs. 20/1738) mit der breiten Mehrheit der Koalitionsfraktionen, der Union und der Linksfraktion angenommen, nachdem der Rechtsausschuss zuvor noch Änderungen an dem Entwurf vorgenommen hatte (BT-Drs. 20/2653). Der Bundesrat hat den Gesetzesentwurf in seiner Sitzung am 8. Juli 2022 gebilligt (BR-Drs. 313/22). Das „Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderungen genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften“ ist am 26. Juli 2022 im Bundesgesetzblatt verkündet worden.¹ Somit können auch künftig nach Auslaufen der temporär geltenden Regelungen (diese gelten noch bis 31. August 2022) virtuelle Hauptversammlung abgehalten werden.

Hintergrund

Durch Sonderregelungen im Gesetz über Maßnahmen u.a. im Gesellschaftsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie vom 27. März 2020 (GesRuaCOVBekG) konnten Aktiengesellschaften bereits in den vergangenen zwei Jahren eine ausschließlich virtuelle HV durchführen. Nach Modifikationen und Verlängerungen der ursprünglichen Geltungsdauer werden diese Pandemie-bedingten Sonderregelungen am 31. August 2022 auslaufen. Mit dem nun verabschiedeten Gesetz ist ein dauerhafter Rechtsrahmen für virtuelle Hauptversammlungen geschaffen worden. Die virtuelle HV war von der Praxis allgemein gut angenommen.

Inhalt des Gesetzes

Wesentliche Regelungspunkte, Satzungsermächtigung und Voraussetzungen

§ 118a AktG n.F. regelt als zentrale Vorschrift die Möglichkeit und Voraussetzungen der virtuellen HV. Nach § 118a Abs. 1 S. 1 AktG n.F. liegt eine virtuelle HV vor, wenn die Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten am Ort der HV abgehalten wird.

Für die Durchführung einer virtuellen HV bedarf es einer Satzungsermächtigung (entweder unmittelbar in der Satzung oder als Ermächtigung des Vorstands). Die Ermächtigung ist jeweils auf höchstens fünf Jahre begrenzt.

Für die Formulierung der Satzungsbestimmung einer Ermächtigung des Vorstands kann sich an folgendem Wortlaut orientiert werden: „Der Vorstand kann unter den Voraussetzungen des § 118a Abs. 1 S. 2 AktG anordnen, dass die Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten am Ort der Hauptversammlung abgehalten wird.“

Die Abhaltung der virtuellen HV setzt insbesondere voraus, dass:

  1. die gesamte Versammlung in Bild und Ton übertragen wird und die elektronische Stimmrechtsausübung der Aktionäre möglich ist;
  2. Aktionäre Anträge in der Versammlung im Wege der Videokommunikation stellen können. Dadurch soll die Transparenz der Antragseinbringung für die Versammlungsteilnehmer gefördert werden (vgl. BT-Drs. 20/2653, S. 34); dies umfasst neben Geschäfts­ordnungsanträgen oder dem Antrag auf Bestellung eines Sonderprüfers auch Gegenanträge und Wahlvorschläge, die noch in der HV erstmals gestellt werden können;
  3. Aktionäre das Auskunftsrecht nach § 131 AktG im Wege elektronischer Kommunikation ausüben können (hier gelten besondere Regelungen, insb. kann der Vorstand entscheiden, dass Fragen spätestens drei Tage vor der Versammlung einzureichen sind);
  4. ein Rederecht in der HV für die elektronisch zugeschalteten Aktionäre im Wege der Videokommunikation sowie eine (elektronische) Widerspruchsmöglichkeit besteht;
  5. der Bericht des Vorstands oder dessen wesentlicher Inhalt spätestens sieben Tage vor der HV den Aktionären zugänglich gemacht wird, sofern der Vorstand von der Möglichkeit gem. § 131 Abs. 1a S. 1 AktG n.F. Gebrauch macht (Vorgabe, dass das Einreichen der Fragen der Aktionäre bis spätestens drei Tage vor der Versammlung im Wege der elektronischen Kommunikation erfolgen muss); und
  6. alle Aktionäre die Möglichkeit erhalten, Stellungnahmen im Vorfeld der Versammlung einzureichen, und diese zugänglich zu machen sind.

Einberufung, Ort der Versammlung, Antragsfiktion, weitere Änderungen

In der Einberufung muss nach § 121 Abs. 4b S. 1 AktG n.F. auch angeben werden, wie sich Aktionäre und ihre Bevollmächtigten elektronisch zur HV zuschalten können. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass eine physische Präsenz am Ort der Versammlung ausgeschlossen ist.

Am Ort der Versammlung müssen zwingend der Versammlungsleiter, ggf. der Notar sowie der Abschlussprüfer anwesend sein. Die Vorstandsmitglieder „sollen“ vor Ort sein, ebenso wie die Aufsichtsratsmitglieder, Letztere sofern deren Teilnahme nicht im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen darf. Zudem kann ein von der Gesellschaft benannter Stimmrechtsvertreter am Ort der HV teilnehmen.

Gegenanträge von Aktionären zu den Vorschlägen der Verwaltung gelten als im Zeitpunkt der Zugänglichmachung gestellt, § 126 Abs. 4 S. 1 AktG n.F. Es liegt eine Fiktion der Antragstellung vor. In der HV können und müssen diese Anträge, im Gegensatz zur Präsenz-HV, nicht mehr gestellt werden (vgl. BT-Drs. 20/1738, S. 29). Die Gesellschaft muss eine frühzeitige Stimmrechtsausübung zu Gegenanträgen, die sich nicht auf die bloße Ablehnung des Verwaltungsvorschlags beschränken, ermöglichen und diese in ihr elektronisches Abstimmungssystem einstellen (BT-Drs. 20/1738, S. 29).

Zudem sind gem. § 129 Abs. 1 S. 3 AktG n.F. die elektronisch zu der virtuellen HV zugeschalteten oder vertretenen Aktionäre und die elektronisch zu der Versammlung zugeschalteten Vertreter von Aktionären in das Teilnehmerverzeichnis aufzunehmen.

Stellungnahmen, Redemöglichkeit und Fragerecht der Aktionäre, §§ 130a, 131 AktG n.F.

Mit dem Gesetz wird erstmals das Recht der Aktionäre eingeführt, vor der virtuellen HV Stellungnahmen zu den Gegenständen der Tagesordnung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen, § 130a Abs. 1 S. 1 AktG n.F. Stellungnahmen sind bis spätestens fünf Tage vor der HV einzureichen. Außerdem kann das Recht zur Stellungnahme bei virtuellen Versammlungen auf ordnungsgemäß zur HV angemeldete Aktionäre beschränkt werden. Die eingereichten Stellungnahmen sind allen Aktionären spätestens vier Tage vor der HV zugänglich zu machen. Möglich ist dies auch über die Internetseite eines Dritten (z.B. HV-Dienstleister). Bei börsennotierten Gesellschaften hat das zugänglich machen über die Internetseite der Gesellschaft zu erfolgen.

Im Gegensatz zum GesRuaCOVBekG wird das Fragerecht der Aktionäre nunmehr deutlich ausgeweitet. Die Aktionäre haben zunächst die Möglichkeit, Fragen vor der Versammlung einzureichen. Die Gesellschaft muss die eingereichten Fragen vor der Versammlung allen Aktionären zugänglich machen und bis spätestens einen Tag vor der HV beantworten. Der Vorstand kann vorgeben, dass die Frist für die Einreichung von Fragen drei Tage vor der HV beträgt, § 131 Abs. 1a S. 1 AktG n.F. Nicht fristgerecht eingereichte Fragen müssen nicht berücksichtigt werden.

Des Weiteren hat jeder elektronisch zugeschaltete Aktionär nach § 131 Abs. 1d AktG n.F. ein Nachfragerecht in der HV. Dieses Recht umfasst Fragen zu allen vor und in der Versammlung gegebenen Antworten des Vorstands und Fragen zu Sachverhalten, die sich erst nach Fristablauf ergeben haben. Das Fragerecht kann auf die Videokommunikation beschränkt werden.

Nach § 130a Abs. 5 S. 1 AktG n.F. ist den elektronisch zur Versammlung zugeschalteten Aktionären ein Rederecht im Wege der Videokommunikation zu gewähren. Bestandteil des Redebeitrags dürfen Fragen (s.o.), Anträge und Wahlvorschläge sein. Der Versammlungsleiter kann, bei Ermächtigung durch die Satzung oder Geschäftsordnung, das Rederecht ebenfalls zeitlich angemessen beschränken.

Anfechtungsrecht

Nach § 1 Abs. 7 GesRuaCOVBekG war u.a. eine Verletzung von § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG (z.B. des Fragerechts) nur anfechtbar, wenn der Gesellschaft Vorsatz nachzuweisen war. Das Anfechtungsrecht wurde nun wieder deutlich ausgeweitet. Es ist jedoch, insbesondere für technische Störungen, § 243 Abs. 3 AktG n.F., im Vergleich zur Präsenz-HV noch eingeschränkt: Eine Anfechtung kann auf eine Verletzung von Rechten durch eine technische Störung nur gestützt werden, wenn der Gesellschaft grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorzuwerfen ist, wobei die Satzung einen strengeren Verschuldensmaßstab bestimmen kann.

Nach § 245 S. 2 AktG n.F. gelten Aktionäre, die sich in der virtuellen HV zuschalten, als erschienen i.S.d. § 245 S. 1 Nr. 1 AktG und sind damit anfechtungsberechtigt. Werden die Voraussetzungen zur Abhaltung einer virtuellen HV aus § 118a S. 2 AktG n.F. nicht erfüllt, können die Beschlüsse der virtuellen HV wegen Verletzung des Gesetzes nach § 243 Abs. 1 AktG angefochten werden (BT-Drs. 20/1738, S. 23).

Beschlüsse können wegen Verletzung des Gesetzes auch angefochten werden, wenn das Auskunftsrecht des Aktionärs nach § 131 Abs. 1 S. 1 AktG verletzt wird, wenn beispielsweise Fragen vom Vorstand nicht beantwortet werden. Insoweit wird das Auskunftsrecht der Aktionäre wieder dem Stand vor dem GesRuaCOVBekG angenähert.

Eine Verletzung des Gesetzes, die zur Anfechtbarkeit führen kann, dürfte auch vorliegen, wenn das Recht auf Stellungnahme nach § 130a Abs. 1 AktG n.F. verletzt wird. Dies könnte z.B. dann der Fall sein, wenn die Gesellschaft eine Stellungnahme nicht veröffentlicht. Allerdings dürfte § 243 Abs. 4 AktG bei einer Verletzung des Rechts zur Stellungnahme entsprechend anwendbar sein. Somit würde es darauf ankommen, ob ein objektiv urteilender Aktionär die Veröffentlichung der Stellungnahme als wesentliche Voraussetzung seiner Teilnahme- und Mitgliedschaftsrechte angesehen hätte.

Kritik am Gesetz und Unterschiede zum Regierungsentwurf

Das nun verabschiedete Gesetz beinhaltet einige Unterschiede zum ursprünglichen Regierungsentwurf und auch zu den Regelungen GesRuaCOVBekG, was vielfach zur Kritik am Gesetz führt. Die Unterschiede zum Regierungsentwurf sind insbesondere die folgenden Punkte:

§ 118a Abs. 1 S. 3 AktG-E wurde gestrichen, sodass die Satzung nunmehr nicht mehr vorsehen kann, dass bestimmte Gegenstände nicht bei der virtuellen HV behandelt werden dürfen. Dadurch sollen die „Gleichwertigkeit des virtuellen Formats mit der Präsenzversammlung“ verdeutlicht und die Aktionärsrechte gestärkt werden (BT-Drs. 20/2653, S. 34).

Nach § 121 Abs. 4b S. 4 AktG n.F. ist bei börsennotierten Gesellschaften in der Einberufung der HV nun zusätzlich darauf hinzuweisen, dass der Bericht des Vorstands oder dessen wesentlicher Inhalt zugänglich gemacht wird.

Eine weitere Änderung besteht darin, dass ein Absatz 6 in § 130a AktG n.F. eingefügt wurde: Danach kann sich die Gesellschaft in der Einberufung vorbehalten, die Funktionsfähigkeit der Videokommunikation zwischen Aktionär und Gesellschaft in der HV und vor dem Redebeitrag zu überprüfen und diesen zurückzuweisen, sofern die Funktionsfähigkeit nicht sichergestellt ist. Mit der Regelung sollen Funktionsstörungen vermieden und den „Besonderheiten elektronischer Kommunikation im virtuellen Format“ Rechnung getragen werden (vgl. BT-Drs. 20/2653, S. 35).

In dem ursprünglichen Regierungsentwurf bezog sich das Nachfragerecht von jedem elektronisch zur Versammlung zugeschalteten Aktionär auch auf vorab eingereichte Fragen sowie auf in der HV in Redebeiträgen gestellte Fragen. Mit dem verabschiedeten Gesetz wird das Recht in § 131 Abs. 1d AktG n.F. auf Fragen zu allen vor und in der HV gegebenen Antworten des Vorstands beschränkt.

Nach den umfangreichen Diskussionen zum Referenten- und auch zum Regierungsentwurf ist das letztlich verabschiedete Gesetz ebenso bereits auch Kritik der verschiedenen Lager gestoßen. So kritisiert etwa die DSW, dass grds. nur Rückfragen zu bereits gestellten Fragen möglich sind und das Fragerecht eingeschränkt wird. Der Aktionär könne auf aktuelle Entwicklungen nicht reagieren, wohingegen bei einer Präsenz-HV diese Möglichkeit bestehe. Dem DAI hingegen geht das Fragerecht zu weit. Ein Fragerecht während der HV zu vom Vorstand bereits beantworteten Fragen sei nicht sinnvoll.

Es ist u.a. auch dahingehend Kritik geübt worden, dass die Regelungen den praktischen Bedürfnissen für eine virtuelle HV vor allem aus Sicht der Gesellschaft nicht ausreichend Rechnung tragen und sich zu starr am Konzept der Präsenz-HV orientiert wurde.

Fazit

Die Schaffung eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen ist im digitalen Zeitalter grundsätzlich zu begrüßen gewesen. Für sich genommen könnte zu bezweifeln sein, dass die virtuelle HV in ihrer nunmehrigen Ausgestaltung tatsächlich eine sinnvolle Alternative zur klassischen Präsenz-HV ist oder aufgrund der starken Fokussierung auf die Teilnahmerechte und verbleibender Unsicherheiten die Vorteile einer virtuellen HV konterkariert und Gesellschaften daher – vorerst – nur zurückhaltend von der Möglichkeit einer virtuellen HV Gebrauch machen. Andererseits könnte aber die steigende Bedeutung von Environmental Social Governance (ESG) dazu führen, dass Gesellschaften gleichwohl bereits sind, verstärkt virtuelle HVs abzuhalten, um insb. den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Ausgewogen erscheint, dass für die Abhaltung einer virtuellen HV ab September 2023 eine Satzungsänderung erforderlich ist. Auf diese Weise werden die Aktionäre in den Entscheidungsprozess eingebunden. Im Jahr 2023 kann die Gesellschaft noch selbst bestimmen, ob eine virtuelle HV durchgeführt werden soll.

Die Zukunft und der vor allem der praktische Umgang mit den beschlossen Neuerungen bleiben spannend und dürften auch die HV-Dienstleister vor neue Herausforderungen stellen. Die HV-Saison 2023 wird zeigen, ob das nun geregelte Modell der virtuellen HV praxistauglich genug ist, um die virtuelle HV dauerhaft als echte Alternative zur Präsenz-HV zu etablieren. Es ist jedenfalls zu vermuten, dass ab 2023 wieder eine Reihe von Gesellschaften vorerst zur klassischen Präsenz-HV zurückkehren werden.

 

[1] - BGBl. I 2022 Nr. 27 S. 1166.

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