Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Betriebsratsvorsitzender kann Betriebsvereinbarung nicht aufgrund Anscheinsvollmacht wirksam abschließen

Köln, 10.08.2022

Newsletter ArbeitsrechtI. Entscheidung

Das Bundesarbeitsgericht ist am 8. Februar 2022 (Az.: 1 AZR 233/21) mit der Frage befasst gewesen, ob ein Betriebsratsvorsitzender ohne entsprechenden Beschluss des Gremiums nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht eine Betriebsvereinbarung wirksam abschließen kann.

Der Entscheidung lag folgender Fall zugrunde: Der klagende Arbeitnehmer begehrte festzustellen, dass sein Grundgehalt nach einer Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1967 zu berechnen sei. Die beklagte Arbeitgeberin lehnte dies mit der Begründung ab, diese Betriebsvereinbarung sei durch eine im Jahr 2017 geschlossene Betriebsvereinbarung abgelöst worden. Für den Arbeitnehmer wäre das Vergütungssystem der Betriebsvereinbarung von 1967 günstiger als das der Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2017.

Der Arbeitnehmer hat die Auffassung vertreten, die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2017 sei unwirksam, weil ihr kein ordnungsgemäßer Beschluss des Betriebsrates zugrunde liege. Die Arbeitgeberin ist hingegen der Ansicht gewesen, die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2017 sei jedenfalls wirksam, weil der Betriebsratsvorsitzende mit Anscheinsvollmacht gehandelt habe.

Das BAG hat die Betriebsvereinbarung 2017 – anders als die Vorinstanzen – mangels ordnungsgemäßem Beschluss des Betriebsrats für unwirksam gehalten. Der Betriebsratsvorsitzende habe auch nicht mit Anscheinsvollmacht gehandelt. Eine Anscheinsvollmacht wird grundsätzlich angenommen, wenn aufgrund eines pflichtwidrigen Verhaltens des Vertretenen der Vertragspartner schutzwürdig auf eine bestehende Vollmacht des Vertreters vertraut. Eine Anscheinsvollmacht hätte im vorliegenden Fall in Betracht kommen können, weil nach dem Ergebnis der beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf durchgeführten Beweisaufnahme der Betriebsratsvorsitzende in Kenntnis der Mehrheit des Gremiums und des guten Glaubens der Arbeitgeberin gehandelt habe. Der Betriebsrat habe die Arbeitgeberin trotz Kenntnis aller Mitglieder vom Fehlen der ordnungsgemäßen Beschlussfassung pflichtwidrig nicht aufmerksam gemacht.

Nach dem Bundesarbeitsgericht könnten die Grundsätze der Anscheinsvollmacht gleichwohl nicht auf die Vertretung des Betriebsrats durch seinen Vorsitzenden übertragen werden. Dieser vertrete das Gremium gemäß § 26 Abs. 2 Satz 1 BetrVG lediglich im Rahmen der vom Betriebsrat gefassten Beschlüsse. Zudem könnten Betriebsvereinbarungen nicht auf Grundlage eines Rechtsscheins geschlossen werden, da sie – anders als ein „normaler“ Vertrag – auch zu Lasten der betriebsangehörigen Arbeitnehmer gelten könnten.

II. Praxisrelevanz

Für alle Betriebe mit Betriebsrat ist dieses Urteil von großer Bedeutung. Regelmäßig vertrauen Arbeitgeber darauf, die vom Betriebsratsvorsitzenden (zwingend) schriftlich erklärte Zustimmung zu einer Betriebsvereinbarung sei von einem ordnungsgemäßen Beschluss des Betriebsrats getragen. Wie der hier besprochene Fall zeigt, kann dieses Vertrauen aber – auch noch nach Jahrzehnten – zu unliebsamen Überraschungen führen. Arbeitgeber sollten sich aus diesem Grund über das Vorliegen eines ordnungsgemäßen Beschlusses des Betriebsrats vergewissern. Das gilt auch, obwohl der Betriebsrat eine zunächst unwirksam durch den Betriebsratsvorsitzenden geschlossene Betriebsvereinbarung rückwirkend genehmigen kann. Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf verlassen, dass der Betriebsrat von diesem Recht Gebrauch macht.

Um Klarheit über die Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung zu haben, stehen den Arbeitgebern laut Bundesarbeitsgericht im Wesentlichen zwei Handlungsoptionen zur Verfügung: Sie können zum einen auf einer von ihnen einberufenen Betriebsratssitzung vom Betriebsrat verlangen, über den Abschluss einer Betriebsvereinbarung abzustimmen. Der Betriebsrat ist zur Aushändigung einer Abschrift der Niederschrift über den entsprechenden Beschluss verpflichtet. Aus der Abschrift gehe hervor, ob der Betriebsrat den Abschluss der Betriebsvereinbarung beschlossen hat.

Zum anderen kann der Arbeitgeber auch dann, wenn der Betriebsrat bereits über den Abschluss einer Betriebsvereinbarung abgestimmt haben will, die Aushändigung einer Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift verlangen, aus dem sich die Beschlussfassung des Betriebsrates über den Abschluss der Betriebsvereinbarung ergebe. Das Verlangen des Arbeitgebers muss allerdings – so das Bundesarbeitsgericht – „zeitnah“ nach Abschluss der Betriebsvereinbarung erfolgen. Wann ein Verlangen nicht mehr zeitnah ist, lässt sich nicht bestimmen. Arbeitgeber sollten aus diesem Grund möglichst unverzüglich – also am besten innerhalb weniger Tage – die Aushändigung der Sitzungsniederschrift verlangen.

Arbeitgebern wird angeraten, eine der beiden vorgenannten Optionen zu nutzen, um sicherzustellen, dass die Betriebsvereinbarung nicht mangels Vertretungsmacht des Vorsitzenden unwirksam ist. Insofern dürfte sich die zweitgenannte Option als deutlich praxistauglicher erweisen. Dem eventuell auf Betriebsratsseite entstehenden Eindruck, der Arbeitgeber misstraue ihm, kann durch Hinweis auf die hier besprochene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts begegnet werden.

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