Der Bundesgerichtshof hat in der 2. Hälfte des vergangenen Jahres zwei Entscheidungen gefällt, die sich mit der Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat befassen. Die Entscheidungen vom 10.07.2018 – II ZR 24/17 – und vom 18.09.2018 – II ZR 152/17 - erscheinen auf den ersten Blick wenig spektakulär.
Bei näherer Betrachtung entpuppt sich eine gewisse Sprengkraft:
Die eine Entscheidung behandelt die Frage der Haftung, wenn der Vorstand Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Aufsichtsrats nicht beachtet – und dort konkret die Frage, ob der Vorstand sich damit entlasten kann, dass der behauptet, dass der Aufsichtsrat bei ordnungsgemäßer Befassung zugestimmt hätte. Der BGH hält einen solchen Entlastungsbeweis für möglich. Dies hat aber zur Konsequenz, dass im Streit- und Konfliktfall der Aufsichtsrat und vor allem der Aufsichtsratsvorsitzende verstärkt in den Focus geraten – kommt es doch auf deren hypothetisches Verhalten an. Die andere Entscheidung behandelt die Frage der Aufsichtsratshaftung, wenn dieser Schadensersatzansprüche gegen (frühere) Vorstandsmitglieder nicht verfolgt – insbesondere die Frage der Verjährung solcher Ansprüche und die Frage, ob sich ein Aufsichtsrat bei der Aufklärung gleichsam selbst belasten muss. In der Kombination verstärken diese Entscheidungen den Focus auf den Aufsichtsrat und konkret den Aufsichtsratsvorsitzenden.
I. IM EINZELNEN: VORSTANDSHAFTUNG BEI ZUSTIMMUNGSVORBEHALTEN
1. PFLICHT DES VORSTANDS, DIE VORHERIGE ZUSTIMMUNG DES AUFSICHTSRATES EINZUHOLEN
Nach § 111 AktG muss eine Aktiengesellschaft entweder in der Satzung oder im Rahmen der Geschäftsordnung des Vorstandes oder des Aufsichtsrats einen Zustimmungskatalog des Aufsichtsrats vorsehen. Bei besonders wichtigen Geschäften darf der Vorstand nur mit vorheriger Zustimmung des Aufsichtsrats handeln. Beachtet der Vorstand diese Zustimmungsvorbehalte nicht, so bleiben zwar die (Rechts-)Geschäfte im Außenverhältnis wirksam, der Vorstand handelt aber pflichtwidrig. Eine Vorstandshaftung besteht dann schon aus formalen Gründen grundsätzlich schon allein deshalb, weil er den Aufsichtsrat nicht mit der Sache vorab befasst hat.
Allenfalls in Eilfällen kann der Vorstand ausnahmsweise berechtigt sein, schon vor der Zustimmung des Aufsichtsrats zu handeln und die Zustimmung nachträglich einzuholen. Ein solches Vorgehen ist allerdings für den Vorstand extrem riskant und sollte, wenn überhaupt, nur nach einer sorgfältigen Risikoanalyse vorgenommen werden, mithin in Fällen, in denen ein sofortiges Handeln unabweisbar geboten ist. Zudem sollte der Vorstand den Aufsichtsrat (über den Vorsitzenden) stets informiert halten.
Im Zusammenhang mit der Einhaltung von Zustimmungsvorbehalten muss der Vorstand ferner auf die Formalien achten. Eine konkludente Zustimmung des Aufsichtsrats genügt nicht. Vielmehr bedarf es eines ausdrücklich gefassten Aufsichtsratsbeschlusses (entweder in einer Präsenzsitzung oder – vor allem in Eilfällen – im Rahmen es eines Umlaufverfahrens). Diese Beschlüsse sollten – gerade im Interesse der späteren Haftungsvermeidung – entsprechend dokumentiert werden.
2. MÖGLICHKEIT EINES ENTLASTUNGSBEWEISES
Aber – und dies hat der Bundesgerichtshof nun ausdrücklich festgestellt:
Auch ein (nachträglicher) Entlastungsbeweis bei Missachtung von Zustimmungsvorbehalten ist möglich – und führt zur Enthaftung.
Ist ein vorgreiflicher Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats entgegen Satzung und/oder Geschäftsordnung Beschluss nicht eingeholt worden, kann sich der Vorstand damit entlasten, dass der Aufsichtsrat bei pflichtgemäßer Befassung dem Geschäft zugestimmt hätte. „Rechtmäßiges Alternativverhalten“ – lauten die Stichworte.
Der Vorstand kann sich damit entlasten, dass der Aufsichtsrat bei rechtzeitiger Befassung dem Geschäft zuge
zugestimmt hätte. Der Vorstand muss dies allerdings in einem etwaigen Rechtsstreit darlegen und gegebenenfalls beweisen.
Der BGH führt aus, dass die Haftung wegen Missachtung von Zustimmungsvorbehalten kein Selbstzweck sei. Das ist richtig, allerdings wird (ebenso wie bei der Einholung einer nachträglichen Genehmigung) der Aufsichtsrat oftmals unter Druck stehen, das Vorstandshandeln, dass nun einmal so erfolgt ist, nun auch nachträglich zu genehmigen. Hier droht eine unverhältnismäßige Aufweichung des zum Schutz der Gesellschaft bestehenden Zustimmungsvorbehalts, und es ist aus Vorstandssicht Vorsicht geboten: Keineswegs wird ein gut beratener Aufsichtsrat „immer und ungebremst“ einem vorgreiflichem Vorstandshandeln ohne Zögern zustimmen. Das Risiko liegt auf dem Tisch, und zwar auf dem Tisch des Vorstandes.
3. FOLGERUNGEN FÜR DEN AUFSICHTSRAT
Es kommt noch ein Weiteres hinzu: Wenn der Vorstand seine Pflichten durch das „Überfahren“ des Zustimmungsvorbehalts verletzt, hat der Aufsichtsrat im Ergebnis die Wahl, ob er durch die Aussage, er hätte bei rechtzeitiger Befassung dem Geschäft zugestimmt, das Vorstandshandeln nachträglich legitimiert oder ob er eine solche Aussage nicht trifft. Logische Konsequenz ist dann, dass der Aufsichtsrat die handelnden Vorstandsmitglieder in Regress nehmen muss bzw. dies zumindest sorgfältig prüfen muss. Hier liegen die Risiken auf dem Tisch des Aufsichtsrats, und zwar besonders auf dem Tische des Aufsichtsratsvorsitzenden, der eine sachgerechte Beschlussfassung vorbereiten muss.
II. VERJÄHRUNG VON VORSTANDS- UND AUFSICHTSRATSHAFTUNG
1. PFLICHT DES AUFSICHTSRATS ZUR GELTENDMACHUNG VON SCHADENSERSATZANSPRÜCHEN
In einem zweiten Urteil erläutert der BGH Fragen der Aufsichtsratshaftung bei der Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern und Fragen der Verjährung.
Zu den Pflichten des Aufsichtsrats gehört die Vertretung der AG gegenüber Vorstandsmitgliedern (und zwar auch gegenüber ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern, § 112 AktG). Dabei ist der Aufsichtsrat ggfs. auch verpflichtet, Schadenersatzansprüche gegen den Vorstand zu verfolgen.
Der BGH bestätigt hier zunächst seine sog. ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung. Diese sieht ein abgestuftes Prüfungsprogramm für den Aufsichtsrat vor, dass dieser zur Haftungsvermeidung stets befolgen sollte.
Der Aufsichtsrat muss prüfen, ob ein Ersatzanspruch in tatsächlicher und rechtlicher Hin-sicht besteht. Ist dies der Fall, so muss der Aufsichtsrat prüfen, ob der Anspruch mit hinreichender Sicherheit durchsetzbar ist und schließlich, ob ausnahmsweise wegen gewichtiger Interessen und Belange der Gesellschaft oder aus sonstigen Ausnahmefällen, von der Verfolgung des Anspruchs abgesehen werden sollte. Hierbei steht dem Aufsichtsrat zwar ein gewisser Beurteilungsspielraum, aber kein unternehmerisches Ermessen zu. Der Aufsichtsrat hat vom Regelfall auszugehen, dass Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder bei hinreichender Erfolgsaussicht auch verfolgt werden müssen.
Verletzt der Aufsichtsrat diese Pflicht, so ist er seinerseits zum Schadensersatz gegenüber der Gesellschaft verpflichtet. Welche weitreichende (zeitliche) Folgen dies haben kann, zeigt die zweite BGH-Rechtsprechung. „Freundlichkeit führt zur Haftung“, mit diesen Worten lässt sich beschreiben, welche weitere Feststellung der Bundesgerichtshof getroffen hat.
2. SCHADEN IN FORM DES AUSGEBLIEBENEN HAFTUNGSREGRESSES GEGEN DEN VORSTAND
Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch ist, dass der Gesellschaft aus der Nichtverfolgung von Schadensersatzansprüchen ein Schaden entstanden ist. Die Gesellschaft muss somit beweisen, dass die Gesellschaft aus der Verfolgung von Ansprüchen einen bestimmten Geldbetrag erlangt hätte. Ein solcher Nachweis fällt verhältnismäßig einfach, wenn die Beträge entweder überschaubar sind oder eine D&O-Versicherung für den Schaden hätte eintreten müssen. Ist dies nicht der Fall, so müsste die Gesellschaft darlegen, dass die Vorstandsmitglieder auch in der Lage gewesen wären, die Schadensersatzansprüche zu erfüllen.
3. VERJÄHRUNG DER AUFSICHTSRATSHAFTUNG
Dort wurde der Aufsichtsrat in Anspruch genommen, weil er Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder hatte verjähren lassen.
Schadensersatzansprüche gegen Vorstandmitglieder verjähren in 5 (bei börsennotierten Gesellschaften in 10) Jahren ab der Entstehung des Anspruchs. Im Falle der Aufsichtsratshaftung war nun fraglich, wann der Anspruch gegen die Aufsichtsratsmitglieder entsteht und konsequenterweise, wann dessen Verjährung zu laufen beginnt.
Der BGH hält zu Recht fest, dass die Verjährung erst dann zu laufen beginnt, wenn der Anspruch gegen die Vorstandsmitglieder verjährt ist. Erst in diesem Fall und zu diesem Zeitpunkt war ein Schaden für die Gesellschaft aus der Pflichtverletzung des Aufsichtsrats entstanden.
Dieses „Verjährungskarussell“ kann in extremen Fällen dazu führen, dass erst 10 Jahre nach der pflichtwidrigen Handlung, die Aufsichtsratshaftung wegen der Nicht-Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegenüber den Vorstandsmitgliedern verjährt. Bei börsennotierten Gesellschaften kann sich der Zeitraum sogar auf 20 Jahre erstrecken.
4. KEINE VERTEIDIGUNG DURCH RECHT, SICH NICHT SELBST BELASTEN ZU MÜSSEN
Der BGH problematisierte dann weiter, ob der Aufsichtsrat sich darauf berufen könne, dass er sich mit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Vorstand selbst eines pflichtwidrigen Handelns hätte bezichtigen müssen.
Der BGH legt hier einen strengen Maßstab an und hält fest, dass der Aufsichtsrat grundsätzlich auch dann zur Verfolgung des Vorstandes verpflichtet sei, wenn er damit notwendigerweise auch eigene Pflichtverletzung aufdeckt. Er kann insbesondere eine Verfolgung der Ansprüche nicht mit der Begründung verweigern (oder sich zur Haftungsvermeidung darauf berufen), dass er sich notwendigerweise auch selbst habe bezichtigen müssen. Der Aufsichtsrat muss mithin den Interessen der Gesellschaft bei der Anspruchsverfolgung den Vorrang geben.
5. ZUSAMMENFASSUNG
Auch die zweite Entscheidung des BGH zeigt, dass der Aufsichtsrat gerade in sensiblen Punkten „Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber Vorstandsmitgliedern“ seine Erwägungen sorgfältig dokumentieren muss. Er darf keineswegs leichtfertig oder gar aus falsch verstandenem „Corpsgeist“ über solche Ansprüche hinweg gehen. Er geht damit ein erhebliches Risiko ein, später selbst von der Gesellschaft (entweder über einen Insolvenzverwalter oder aufgrund des Einsatzes späterer Organmitglieder oder aktiver Aktionäre in die Haftung genommen zu werden).