EuGH: Arbeitgeber müssen auch Eltern von Kindern mit einer Behinderung vor Diskriminierung schützen

München, 12.11.2025

Kann ein Arbeitgeber es ablehnen, die Arbeitsbedingungen eines Elternteils anzupassen, wenn dieser aufgrund der Pflege und Betreuung eines behinderten Kindes feste Arbeitszeiten oder einen bestimmten Arbeitsort benötigt? Mit dieser Frage hatte sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) jüngst im Fall einer italienischen Stationsaufsicht zu befassen. 

Sachverhalt

Die Arbeitnehmerin hatte ihren Arbeitgeber mehrfach gebeten, sie dauerhaft an einem Arbeitsplatz mit festen Arbeitszeiten einzusetzen, um sich um ihren schwerbehinderten Sohn kümmern zu können. Der Arbeitgeber gewährte zwar vorübergehend eine entsprechende Anpassung, lehnte eine dauerhafte Regelung jedoch ab.

Die Arbeitnehmerin sah darin eine mittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung und klagte. Der italienische Kassationsgerichtshof legte dem EuGH die Frage vor, ob das unionsrechtliche Verbot der mittelbaren Diskriminierung auch dann eingreife, wenn die benachteiligte Person selbst nicht behindert ist, sondern ein behindertes Kind betreut.

Die Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung auch für Arbeitnehmer gilt, die selbst nicht behindert sind, aber aufgrund der Unterstützung ihres behinderten Kindes benachteiligt werden. Bereits 2008 hatte der Gerichtshof im Fall Coleman klargestellt, dass eine sogenannte „assoziative Diskriminierung“ auch unmittelbare Benachteiligungen erfassen kann. Nun bestätigt er, dass dieser Schutz auch für mittelbare Diskriminierungen gilt.

Auch scheinbar neutrale Regelungen, etwa starre Schichtmodelle oder unflexible Arbeitszeitvorgaben, können Eltern behinderter Kinder im Ergebnis besonders benachteiligen und damit gegen das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot verstoßen. Der EuGH betont, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, geeignete und erforderliche Maßnahmen zu prüfen, um eine Gleichbehandlung zu gewährleisten.

Diese Verpflichtung ergibt sich aus Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG und umfasst die Pflicht, „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen – etwa durch eine Anpassung von Arbeitszeit, Arbeitsort oder Aufgabenverteilung –, sofern der Arbeitgeber dadurch nicht unverhältnismäßig belastet wird.

Zur Begründung verweist der EuGH auf die Grundrechtecharta, insbesondere auf die Rechte des Kindes (Art. 24) und das Recht von Menschen mit Behinderungen auf soziale und berufliche Teilhabe (Art. 26). Diese Rechte seien im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention auszulegen, die ausdrücklich auch den Schutz und die Unterstützung der Familien von Menschen mit Behinderungen verlangt. Arbeitgeber müssen daher Arbeitsbedingungen so gestalten, dass Eltern behinderter Kinder ihrer Fürsorgepflicht nachkommen können, ohne Gefahr zu laufen, aufgrund starrer Strukturen mittelbar diskriminiert zu werden.

Das nationale Gericht hat nun im Einzelfall zu prüfen, ob die beantragte Anpassung der Arbeitszeit für den Arbeitgeber eine unverhältnismäßige Belastung darstellen würde. Dabei sind insbesondere wirtschaftliche und organisatorische Faktoren, die Betriebsgröße sowie die Verfügbarkeit von Fördermitteln zu berücksichtigen.

Praxisrelevanz

In Umsetzung der Richtlinienvorgaben verbietet auch das deutsche Allgemeine Gleich-behandlungsgesetz (AGG) eine mittelbare Benachteiligung wegen einer Behinderung, unter anderem in Bezug auf Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen (§§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 3 Abs. 2 AGG).

Nach dem Urteil des EuGH vom 11. September 2025 sind von diesem Verbot auch mittelbare assoziative Diskriminierungen umfasst. 

Diese erweiternde Auslegung dürfte nunmehr auch für die Umsetzung des Konzepts der angemessenen Vorkehrungen gelten. Zwar regelt – beispielswiese – das arbeitgeberseitige Weisungsrecht gemäß § 106 S. 3 GewO ausdrücklich nur, dass der Arbeitgeber bei der Ausübung seines Ermessens auf „Behinderungen des Arbeitnehmers“ Rücksicht zu nehmen hat. Auch § 164 Absatz 4 SGB IX spricht ausdrücklich nur von einem Anspruch auf Anpassung des Arbeitsplatzes des schwerbehinderten Menschen gegenüber seinem Arbeitgeber. Das vom EuGH konkretisierte Diskriminierungsverbot ist aber auf nationaler Eberne umzusetzen, sodass auch die Ausübung des Direktionsrechts sowie die individuellen Ansprüche aus dem SGB IX im Lichte dieser Rechtsprechung auch die Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber Betreuungs-personen umfassen dürften – auch wenn unklar bleibt, wie eng die persönliche Beziehung zwischen dem benachteiligten Arbeitnehmer und der zu betreuenden Person sein muss.

Hinweis

Welche Konsequenzen sich aus dem Urteil für die betriebliche Praxis ergeben, lässt sich nicht schematisch beantworten. Der EuGH macht deutlich, dass die Reichweite der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen immer von den konkreten Umständen abhängt. Maßgeblich sind dabei die Art der Tätigkeit, die Organisationsstruktur und die betrieblichen Ressourcen. Arbeitgeber müssen deshalb in jedem Einzelfall prüfen, ob und in welcher Form eine Anpassung der Arbeitsbedingungen erforderlich ist, um eine mittelbare Benachteiligung zu vermeiden.

Erfährt der Arbeitgeber von einer Betreuungssituation, sollte der Arbeitgeber sorgfältig prüfen, ob die vom Arbeitnehmer begehrten Anpassungen wirtschaftlich zumutbar und im Rahmen der betrieblichen Gegebenheiten umsetzbar sind. 

Tut er dies nicht oder wird eine naheliegende oder zumutbare Anpassung ohne triftigen Grund verweigert, drohen Ansprüche des Arbeitnehmers auf Durchführung der begehrten Maßnahme sowie Schadensersatz oder Entschädigung nach § 15 AGG. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, den Entscheidungsprozess transparent zu dokumentieren und frühzeitig das Gespräch mit der betroffenen Person zu suchen. Ein kooperativer Ansatz – idealerweise unter Einbeziehung von Personalabteilung, Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrat – erhöht die Rechtssicherheit und erleichtert tragfähige Lösungen.

 

Für weitere Informationen stehen wir Ihnen jederzeit zur Verfügung –wir unterstützen und beraten Sie gern!

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