[] Auch bei strafbarem, gegen das Vermögen des Arbeitgebers gerichtetem Verhalten des Arbeitnehmers kann es einer Abmahnung bedürfen, wenn der Arbeitnehmer lange Zeit beanstandungsfrei gearbeitet hat und der Vermögensschaden gering ist (BAG, 10.06.2010, 2 AZR 541/09).
Sachverhalt
In dem entschiedenen Fall hatte die Klägerin, die als Kassiererin eines Einzelhandelsgeschäfts angestellt war, zwei ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von insgesamt € 1,30 zum eigenen Vorteil eingelöst. Sie war zuvor ca. 30 Jahre bei der beklagten Arbeitgeberin beanstandungsfrei beschäftigt. Am 12. Januar 2008 wurden ihr die Bons zur Aufbewahrung übergeben, da sie zuvor herrenlos in der Filiale aufgefunden worden waren. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen stand für das Bundesarbeitsgericht fest, dass die Klägerin die beiden Bons bei einem privaten Einkauf 10 Tage später bei einer kassierenden Kollegin einlöste. Obwohl die Klägerin diesen Vorwurf stets bestritten hat, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ungeachtet des Widerspruchs des Betriebsrats wegen des dringenden Tatverdachts fristlos, hilfsweise fristgemäß.
Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht hat nunmehr die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt, da es an einem wichtigem Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB fehle. Hiernach ist das Vorliegen eines wichtigen Grundes „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile" zu beurteilen. Die Richter halten ausdrücklich daran fest, dass eine Vertragspflichtverletzung auch dann geeignet ist, die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen, „wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden gering ist". Daraus sei jedoch nicht abzuleiten, dass die stets durchzuführende Interessenabwägung durch das bloße Vorliegen strafbaren Verhaltens in jedem Falle zu Lasten des Arbeitnehmers ausfallen müsse. Nicht abschließend zählt das Gericht hierbei etwaig zu berücksichtigende Interessen auf. Hierzu solle das Ausmaß der Vertrauensbeschädigung, das Interesse an der korrekten Handhabung von Geschäftsanweisungen, das durch beanstandungsfreie Beschäftigung über einen längeren Zeitraum erworbene "Vertrauenskapital" sowie das Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes berücksichtigt werden. Unter Bezug auf diese Umstände kam der Senat zu dem Ergebnis, dass es sich zwar um einen schwerwiegenden Vertragsverstoß handele, der auch den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin betreffe. Gleichwohl überwiege hier das von der Klägerin durch die über 30-jährige beanstandungsfreie Beschäftigung zuvor erworbene Vertrauen. Dieses Vertrauen könne „durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört werden". Dies gelte insbesondere in Anbetracht des nur geringen wirtschaftlichen Schadens, der durch das Fehlverhalten der Klägerin verursacht worden war.
Anmerkung
Die Entscheidung war von Öffentlichkeit und Fachwelt gleichermaßen gespannt erwartet worden, da man eine grundsätzliche Äußerung des Bundesarbeitsgerichts zur Beurteilung von so genannten Bagatellkündigungen erwartete. Bislang hat in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung stets der Grundsatz vorgeherrscht, dass ein gegen die Vermögensinteressen des Arbeitgebers gerichtetes strafbares Verhalten auch dann zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden gering ist. Auch der 2. Senat hält dem Grunde nach an dieser Rechtsprechung fest, stellt jedoch gleichzeitig klar, dass sich hieraus nicht ohne Weiteres die Wirksamkeit der Kündigung ergebe, sondern stets eine Interessenabwägung im Einzelfall durchzuführen sei.
Obwohl es sich ausweislich der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts vom 10. Juni 2010 ausdrücklich um eine Einzelfallentscheidung unter Beibehaltung der bisherigen Grundsätze handelt, birgt die Entscheidung in der Praxis einige Risiken. Die Entscheidung könnte Anlass bieten für zahlreiche Klagen und gerichtliche Entscheidungen, welche sich unter Berufung auf die Entscheidung des BAG ebenfalls auf das Vorliegen eines Ausnahmefalles stützen. Die bisher in Rechtsprechung und Praxis geltende klare Linie, dass gegen das Vermögen des Arbeitgebers gerichtete strafbare Verhalten unabhängig vom Ausmaß der Vermögenseinbuße zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, ist mit dieser Entscheidung zumindest aufgeweicht. Es bleibt somit abzuwarten, ob das Bundesarbeitsgericht auch in Zukunft die bisher geltenden Grundsätze anwendet, oder sich vermehrt auf das Vorliegen eines Ausnahmefalles beruft.
In Zukunft ist jedenfalls auch bei strafbarem Verhalten des Arbeitnehmers stets eine vollwertige Interessenabwägung durchzuführen, bei der ein sogenannter „Vertrauenskredit" des Arbeitnehmers berücksichtigt werden muss, der durch vorheriges langjähriges beanstandungsfreies Verhalten erworben worden sein kann.