„Deutsche Wohnen enteignen“ – Verfassungsrechtlicher Hintergrund der andauernden Kontroverse

Berlin, 02.06.2022

Aufgrund der Beurteilung des Wohnungsmarkts in Berlin wird von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen – namentlich in Gestalt der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ – ein Vergesellschaftungsgesetz zur Enteignung von privaten Wohnungsunternehmen gegen Entschädigung zu Gunsten des Staates befürwortet. Nachdem der nicht verbindliche Volksentscheid vom 26. September 2021 solche Bestrebungen unterstützte, wurde am 29. März 2022 eine Expertenkommission eingesetzt, welche eine Verfassungsmäßigkeit und wirtschaftliche Umsetzbarkeit von Enteignungen eingehend bewerten soll. Nach Tagung am 29. April 2022 wird sie sich mit den kontrovers diskutierten Fragestellungen voraussichtlich erstmalig bei öffentlichen Sitzungen im Juni befassen.

Die skizzierten Zusammenhänge werfen unbeschadet der grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Implikationen in rechtlicher Hinsicht Fragen nach dem zu berücksichtigenden verfassungsrechtlichen Rahmen auf. 

Art. 15 Grundgesetz als normativer Anknüpfungspunkt

Das Grundgesetz schweigt nicht zu einer Enteignung: Nach Art. 15 Satz 1 GG können Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.

Die verfassungsrechtliche Regelung des Art. 15 Satz 1 GG hat bis heute keine nennenswerte praktische Bedeutung erlangt. Vor dem Hintergrund dieses Anwendungsvakuums gehen die Ansichten zu den hohen oder weniger hohen Anforderungen einer hinreichenden Legitimierung der Enteignung von privaten Wohnungsbauunternehmen auf der Grundlage von Art. 15 Satz 1 GG naturgemäß zwischen den Vertretern der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ und Vertretern aus Regierung und Politik auseinander. Nicht zuletzt die Regierende Bürgermeisterin von Berlin Franziska Giffey hat wiederholt deutlich skeptische Töne angeschlagen.
Eine Klärung der Grundlinien erhofft man sich daher von der eingesetzten Expertenkommission. Sie wird sich grob mit folgenden Prämissen auseinanderzusetzen haben: 

Grenzen von Enteignungen

Art. 15 GG enthält weder einen Auftrag noch eine objektive Wertentscheidung zu Gunsten einer Vergesellschaftung von Wirtschaftsgütern. Weil allein die Möglichkeit von Enteignungen eingeräumt wird, ohne dass eine Systemfestlegung erfolgt, spricht man in Ansehung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von einer wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes. Art. 15 GG kann daher allenfalls als Rechtfertigung tatbestandlicher Eingriffe dienen. Das betrifft nicht zuletzt den wirtschaftlich gewichtigen Gesichtspunkt der Entschädigung. Freilich gibt es unbeschadet dieser Aspekte Stimmen in der Rechtswissenschaft, die eine Rechtfertigung namentlich einer Vergesellschaftung über Art. 15 GG in Ansehung der Spezifika des Landesverfassungsrechts von Berlin bereits grundlegend in Abrede stellen, weil die Verfassung von Berlin eine entsprechende Bestimmung schlicht nicht vorsehe: Nach dieser Sichtweise reicht die Eigentumsfreiheit in Berlin sogar weiter als im Bund.

Gegenstände einer Vergesellschaftung

Als enteignungsfähige Gegenstände werden Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel genannt. Einzelne Stimmen in der Rechtswissenschaft sehen auch Wohnraum als hierunter subsumierbar an, entweder als Grund und Boden oder als Produktionsmittel. Dabei orientiert sich der Begriff von Grund und Boden primär an den zivilrechtlichen Kategorien des Grundstücks und dessen wesentlicher Bestandteile sowie Zubehör. Produktionsmittel werden als sachliche und rechtliche Mittel, die der Gewinnung und Herstellung von Gütern dienen, verstanden. Eine Zuordnung einzelner Wirtschaftsunternehmen selbst unter diese Begriffe wird unterschiedlich beurteilt. Es ist insofern gut vorstellbar, die maßgeblichen Tatbestände gerade wegen ihres bisherigen verfassungsrechtlichen Schattendaseins und im Hinblick auf die rechtsstaatliche Bestimmtheit von Rechtsnormen im Zweifel eng auszulegen.

Vergesellschaftungszweck

Art. 15 Satz 1 GG verlangt die Überführung von Gegenständen gerade zum Zweck einer Vergesellschaftung. Zumeist wird hierunter verstanden, dass die Eigentumsobjekte nicht mehr der individuellen Gewinnerzielung dienen mögen, sondern der Befriedigung eines gesellschaftlichen Bedarfs. Dazu erfolgt eine Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft. Hierunter wird man sich vornehmlich eine Eigentumsübertragung auf dem Staat zugehörige Rechtsträger vorzustellen haben. Das Grundgesetz soll dem Gesetzgeber aber auch Spielraum für andere Modelle eröffnen, in denen beispielsweise die Eigentumszuordnung formal beim Privaten verbleibt, aber Kontrolle, beherrschender Einfluss oder eine sonstige Verfügungsmacht eingeräumt wird. Im Interesse der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG dürfte man bei einer Ausgestaltung gesetzgeberischer Modelle nicht zuletzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen haben, der unter anderem eine nachvollziehbare Erforderlichkeit eines verfolgten Modells verlangen dürfte. Im Zweifel könnten daher eigentumsschonende(re) Varianten im Sinne milderer Mittel jedenfalls in Ansehung der subjektiven Grundrechtspositionen betroffener Eigentümer vorzugswürdig sein. Eine Ausgestaltung unter Vernachlässigung betroffener Grundrechtspositionen wäre nicht zulässig.

Entschädigung

Art. 15 Satz 1 GG gewährleistet, dass unter dem Grundgesetz keine Enteignung ohne Entschädigung erfolgt: Beides ist gemeinsam zu regeln; die Rede ist von der sogenannten Junktimklausel, nach der ein Enteignungsgesetz auch Art und Ausmaß der Entschädigung regeln muss. Der Verfassungsgeber sieht hinsichtlich der Ausgestaltung die verfassungsrechtlichen Anforderungen der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 GG für entsprechend anwendbar. Danach ist die Entschädigung unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Es liegt auf der Hand, dass auch hier viel Raum für Diskussionen eröffnet ist. Für eine Vergesellschaftung des gegenständlichen Wohnraums in Berlin wurden bereits deutlich unterschiedliche Zahlen zwischen etwa EUR 7 Milliarden bis EUR 36 Milliarden genannt, welche der Staat (primär wohl aus Steuermitteln) aufwenden müsste. Diese große wirtschaftliche Bedeutung der Eigentumspositionen dürfte man auch in Ansehung der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG, die weitere Grundrechtsschutzaspekte über die Eigentumsfreiheit hinaus gewährleistet, auf allen betroffenen Ebenen einer verfassungsrechtlichen Beurteilung hinreichend zu würdigen haben.

Weitere Grenzen einer Vergesellschaftung

Über die oben genannten Maßstäbe hinaus identifizieren Stimmen in der Rechtswissenschaft weitere Grenzen von Art. 15 GG. Beispielsweise wird vertreten, dass jede Vergesellschaftung eines legitimen Gemeinwohlinteresses bedürfe. Noch strenger sind Sichtweisen, nach denen auch übergeordnet die unterschiedlichen Anforderungen des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu berücksichtigen seien, der in aller Regel staatliches Handeln umfassend bindet; ähnlich wie zum Vergesellschaftungszweck skizziert, wären detailliert Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit eines verfolgten Modells zur effektiven Bekämpfung der Wohnungsknappheit zu untersuchen. Nach allgemeinen Grundsätzen dürfte die potentiell intensive Grundrechtsbetroffenheit für eine eher strenge Prüfung dieser Kriterien sprechen. Es liegt daher auf der Hand, dass die bereits aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit zu fordernde Rechtssicherheit aus heutiger Sicht zumindest zweifelhaft sein dürfte.

Ausblick

Die eingesetzte Expertenkommission wird sich mit einer Konkretisierung der oben überblicksartig angerissenen verfassungsrechtlichen Anforderungen befassen müssen. Das Ergebnis wird man kaum antizipieren können. Das gilt auch insofern, als sich die verfassungsrechtliche Bewertung nicht in der Auslegung von Art. 15 GG erschöpfen dürfte, sondern sich auf staatsorganisationsrechtliche Fragen etwa von Kompetenzen sowie grundrechtliche Positionen wie die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG oder den Allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu erstrecken haben wird. In jedem Fall wird man mit einer grundlegenden Weichenstellung für den Wohnungsmarkt in Berlin und die wirtschaftsverfassungsrechtliche Positionierung für die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit rechnen dürfen. Jede Entscheidung daher allenfalls Bestand haben können und dürfen, wenn die hier nur knapp skizzierten umfassenden verfassungsrechtlichen Anforderungen mit Bedacht, eingehend und hinreichend geprüft und eingehalten werden. Erst eine gegebenenfalls auch verfassungsgerichtliche Würdigung, auf die je nach Entwicklung mehrere Jahre zu warten sein könnte, dürfte langfristig Rechtsklarheit namentlich für etwaig betroffene Eigentümer als Grundrechtsträger bieten können. In Ansehung der wirtschaftlichen Bedeutung der aufgeworfenen Fragen sind mehrinstanzliche und intensiv geführte Gerichtsverfahre sicher zu erwarten, wenn das Vorhaben ganz oder teilweise in die Tat umgesetzt werden sollte.

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