EU-Kommission veröffentlicht finale Fassung der neuen Vertikal-GVO – Ein Überblick über die wichtigsten Änderungen

Köln, 23.05.2022

Nachdem die Europäische Kommission (Kommission) im Juli 2021 einen ersten Entwurf der neuen Vertikal Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) veröffentlicht hat, endete in der vergangenen Woche der umfassende Überarbeitungsprozess. Am 10.05.2022 hat die Kommission die finale Fassung der neuen Vertikal-GVO verabschiedet, die am 1. Juni 2022 in Kraft tritt.

Hintergrund

Das kartellrechtliche Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nach Art. 101 Abs. 1 AEUV bzw. § 1 GWB findet auch zwischen Unternehmen auf unterschiedlichen Produktions- und Vertriebsebenen Anwendung. Die von der Kommission erlassene Vertikal-GVO regelt, unter welchen Voraussetzungen vertikale Vereinbarung dem Wettbewerb dienen und pauschal vom Wettbewerbsverbot freigestellt werden und in welchen Konstellationen dies ausgeschlossen ist. Daher haben die Vertikal-GVO und die dazugehörigen Leitlinien eine hohe praktische Relevanz für jeden Vertriebsvertrag. 

Die Geltungsdauer der aktuellen Fassung der Vertikal-GVO endet am 31. Mai 2022. Aus diesem Grund hat die Kommission bereits im Jahr 2018 mit einem umfassenden Evaluationsprozess der Vertikal-GVO mit dem Ziel begonnen, die Vertikal-GVO an die aktuellen Marktentwicklungen anzupassen. Insbesondere soll es Unternehmen erleichtert werden, ihrer Liefer- und Vertriebsvereinbarungen in einem Geschäftsumfeld zu bewerten, das sich durch die Zunahme des elektronischen Handels und der Online-Verkäufe verändert hat.

Wichtige Änderungen

Die neue Vertikal-GVO sieht umfassende Änderungen vor. Gerade im Bereich des E-Commerce haben sich digitale Angebote als wichtige Vertriebskanäle etabliert. 
Ein weiterer Schwerpunkt der Änderungen liegt zudem auf dem dualen Vertrieb. Unverändert bleibt hingegen die bewährte Struktur der Vertikal-GVO. Insbesondere die Marktanteilsschwelle von 30%, die für die Eröffnung des Anwendungsbereichs nicht überschritten sein darf, bleibt unberührt. 

Dualer Vertrieb

Die Bedeutung des dualen Vertriebs hat angesichts der Relevanz des Online-Handels deutlich zugenommen. 
Dualer Vertrieb lag bislang vor, wenn der Hersteller als Anbieter mit seinem Vertriebspartner als Abnehmer konkurriert, d.h. wenn er sein Produkt sowohl über einen Vertriebspartner als auch direkt an den Endkunden vertreibt. 

Nach der alten Rechtslage war ein duales Vertriebssystem grundsätzlich freigestellt, wenn es in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fiel (insb. Marktanteile von unter 30% und keine Kernbeschränkungen), auch wenn ein Wettbewerbsverhältnis zwischen dem Hersteller und seinem Vertriebspartner auf der Einzelhandelsstufe bestand. Die Freistellung erfasste dabei auch den Informationsaustausch. 

Die neue Vertikal-GVO sieht hingegen strengere Regelungen für duale Vertriebssysteme vor. Zunächst wurde der Anwendungsbereich der Regelungen zum dualen Vertrieb erweitert und erfasst nun auch Großhändler und Importeure. Freistellungsfähig ist daher auch der duale Vertrieb im Verhältnis des Herstellers zum Großhändler/Importeur, wenn der Hersteller auch auf der Stufe des Großhandels/Imports tätig ist sowie der duale Vertrieb im Verhältnis des Großhändlers/Importeurs zum Einzelhändler, wenn der Großhändler/Importeur auch auf der Einzelhandelsstufe tätig ist. Eine Freistellung kann jedoch nur erfolgen, wenn nur auf der Stufe des Abnehmers, nicht aber auf der (vorgelagerten) Stufe des Anbieters ein Wettbewerbsverhältnis besteht. 

Zusätzlich sah die Entwurfsfassung eine Einzelhandelsmarktschwelle von 10% als weitere Voraussetzung für die Freistellung des Informationsaustauschs vor. Nur unterhalb dieser Schwelle sollte ein Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern im dualen Vertrieb möglich sein. Die Einzelhandelsmarktschwelle wurde gänzlich gestrichen und der Informationsaustausch im vertikalen Verhältnis neu geregelt. Die Freistellung des dualen Vertriebs erfasst zwar den Informationsaustausch im Vertikalverhältnis, jedoch nur, sofern es sich um Informationen handelt, die direkt die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betreffen oder zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich sind.

Selektiver Vertrieb

Hinsichtlich selektiver Vertriebssysteme gibt Art. 4 lit. c) der neuen Vertikal-GVO den Unternehmen mehr Flexibilität. Nach wie vor können Hersteller den Verkauf durch Mitglieder des selektiven Vertriebssystems an nicht zugelassene Händler beschränken. Neu hingegen ist die Möglichkeit der Beschränkung des „aktiven“ und „passiven“ Verkaufs sowie die Einbeziehung der Kunden. Die Hersteller können nun Mitgliedern ihres selektiven Vertriebssystems und ihren Kunden verbieten, an nicht zugelassene Händler in einem Gebiet zu verkaufen, in dem der Hersteller ein selektives Vertriebssystem betreibt, unabhängig davon, ob dieser Abnehmer und dessen Kunden selbst innerhalb oder außerhalb dieses Gebiets ansässig sind.
Die Begriffe „aktiver“ und „passiver“ Verkauf werden in Art. 1 lit. l) und m) legal definiert. Besonders dabei ist, dass der passive Verkauf auch die Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren oder privaten Aufforderungen zur Interessensbekundung einschließt.

Alleinvertrieb

Neu nach Art. 4 lit. b) Vertikal-GVO ist, dass innerhalb von Alleinvertriebssystemen die Hersteller nicht nur einen, sondern bis zu fünf Alleinvertriebshändler pro Gebiet oder Kundengruppe benennen können. Ebenso kann die Beschränkung des aktiven Verkaufs in Gebiete oder an Kundengruppen, die dem Eigen- bzw. Alleinvertrieb zugewiesen sind, auch an die Direktkunden der Alleinvertriebshändler weitergereicht werden.

Online-Plattformen und Internetvertrieb

Eine Vielzahl der Änderungen betreffen den Bereich des E-Commerce, da dieser mittlerweile von besonderer praktischer Bedeutung ist. 

Online-Plattformen als Anbieter
Die erste wichtige Änderung ist die Einordnung von Online-Plattformen. Bislang konnten Online-Plattformen das Kartellverbot mit dem Hinweis ihrer Stellung als Handelsvertreter umgehen. Die Vertikal-GVO stellt nunmehr in Art. 1 lit. d) klar, dass Online-Plattformen, die Vermittlungsleistungen erbringen, als Anbieter dieser zu qualifizieren sind. 

Hybride Plattformen
Darüber hinaus sind nach Art. 2 Abs. 6 der Vertikal-GVO Vereinbarungen mit Online-Plattformen über ihre Vermittlungsleistung nicht freigesellt, sofern sie eigene Waren bzw. Dienstleistungen an Kunden anbieten, die im Wettbewerb zu den vermittelten Waren und Dienstleistungen stehen.

Beschränkung des Internetvertriebs
Neu ist zudem eine für die Beschränkung des Internetvertriebs eigens eingeführte Kernbeschränkung in Art. 4 lit. e) der neuen Vertikal-GVO. Hiernach ist eine Verhinderung der wirksamen Nutzung des Internets zum Verkauf von Vertragswaren oder -dienstleistungen durch den Abnehmer oder seine Kunden verboten. Ausgenommen hiervon sind jedoch (i) andere Beschränkungen des Online-Verkaufs sowie (ii) Beschränkungen der Online-Werbung, die nicht darauf abzielen, die Nutzung eines ganzen Online-Werbekanals zu verhindern. Zur genauen Abgrenzung geben die neuen Leitlinien Beispiele und Erläuterungen.

Vereinbarungen die den Vertrieb über Online-Marktplätzen verbieten, sind hingegen freistellungsfähig, sofern sie nicht zu einer gänzlichen Beschränkung des Internetvertriebs führen. Solange den Unternehmen weitere Internetvertriebskanäle offenstehen, ist eine Beschränkung des Vertriebs über Online-Marktplätze im Anwendungsbereich der Vertikal-GVO unbedenklich. 

Dual-Pricing
Keine Kernbeschränkung mehr ist hingegen ein sogenanntes Doppelpreissystem („Dual-Pricing“), bei dem der Hersteller einer Ware von seinen Abnehmern unterschiedliche Preise verlangt, je nachdem, ob das Produkt im stationären Handel oder im Internet weiterverkauft werden soll. Nach Ansicht der Kommission hat sich das Internet als Vertriebskanal etabliert und ist daher gegenüber dem stationären Verkauf nicht mehr besonders schützenswert.

Ebenso müssen die qualitativen Kriterien für den Online-Handel nicht mehr gleichwertig zu den Anforderungen des stationären Vertriebs sein. Dieser Gleichwertigkeitsgrundsatz entfällt, da die Vertriebskanäle nicht mehr als vergleichbar erachtet werden. Dennoch dürfen auch diese Kriterien nicht so weit gehen, dass sie eine effektive Nutzung des Internets ausschließen. 
 
Bestpreisklauseln
Im Zusammenhang mit Plattformen spielen häufig auch Bestpreis- bzw. Meistbegünstigungsklauseln eine Rolle. Inhalt einer solchen Klausel ist die Verpflichtung von Abnehmern von Vermittlungsdiensten seine Waren oder Dienstleitungen weder auf eigenen Vertriebskanälen (sog. „enge“ Meistbegünstigungsklausel), noch anderen Vermittlungsplattformen (sog. „weite“ Meistbegünstigungsklausel) günstiger anzubieten. 

Nach Art. 5 Abs. 1 lit. d) der neuen Vertikal-GVO sind nunmehr weite Meistbegünstigungsklauseln unzulässig und von der Freistellung der Vertikal-GVO ausgenommen. Demgegenüber sind enge Meistbegünstigungsklauseln weiterhin freigestellt. Der BGH entschied in seiner Booking.com Entscheidung hingegen, dass die enge Meistbegünstigungsklaus, die von Booking.com verwendet wurde, jedenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs der Vertikal-GVO, unzulässig war. 

Ausblick

Die Änderungen der neuen Vertikal-GVO treten zum 1. Juni 2022 in Kraft. Bestehende Vereinbarungen müssen teilweise auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden. Hierfür besteht jedoch ein Übergangszeitrum von einem Jahr. Vereinbarungen, die nach dem 1. Juni 2022 geschlossen werden, müssen sich hingegen an die neuen Regelungen halten. 

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