Flop oder Game-Changer? Die elektronische Patientenakte wagt den Neustart

Köln, 28.07.2023

Seit zweieinhalb Jahren ist nun auch in Deutschland die elektronische Patientenakte (ePA) verfügbar. Nach ihrer Einführung zum 01. Januar 2021 für gesetzlich Krankenversicherte steht sie seit dem Jahr 2022 auch privat Krankenversicherten zur Verfügung. Doch was als Meilenstein auf dem Weg zur Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens gedacht war, entpuppte sich als bislang noch ziemlich „zahnloser Tiger“. Denn während sich die ePA etwa in Schweden, Belgien oder Estland schon vor Jahren etabliert hat, betrachtet man sie hierzulande offenbar noch als „digitales Neuland“. Dem möchte die Bundesregierung nun entgegenwirken und legte am 13. Juli 2023 im Rahmen ihrer Digitalisierungsstrategie einen entsprechenden Referentenentwurf vor.

Dies bietet Anlass, den Status Quo in Sachen ePA einmal zu beleuchten und auf die aktuellen Vorhaben der Bundesregierung zu blicken.

I. Status Quo

Die ePA stellt einen zentralen elektronischen Speicherort für medizinische Daten und Dokumente dar, auf dem alle maßgeblichen Patienteninformationen wie Befunde, Medikationen, Vorerkrankungen und Impfstatus digital hinterlegt werden können. Genutzt und verwaltet wird sie über eine App auf dem Tablet oder Smartphone. Die hieraus entstehenden Vorteile liegen auf der Hand, befinden sich damit doch alle Daten und Dokumente nicht mehr verteilt in analogen Karteien verschiedener Arztpraxen und Krankenhäuser, sondern können überall digital abgerufen werden. Dies ermöglicht nicht nur eine Vernetzung des Patienten mit allen Leistungserbringern, sondern auch erhebliche Zeit- und Ressourcenersparnisse sowie effektivere Behandlungen.

Die Krankenkassen sind verpflichtet, dem Versicherten die Führung der ePA zu ermöglichen. Ob und in welchem Umfang hiervon Gebrauch gemacht wird, obliegt jedoch der Entscheidung des Versicherten. Hierfür sieht § 342 SGB V derzeit noch eine Antragslösung vor, wonach der Versicherte proaktiv tätig werden und bei seiner Krankenkasse einen Antrag auf Führung einer ePA stellen muss (sog. Opt-In-Verfahren). Von dieser Möglichkeit hat seit Einführung der ePA weniger als 1 % der in Deutschland gesetzlich Krankenversicherten Gebrauch gemacht, was einer absoluten Zahl von nur etwas mehr als einer halben Million der bundesweit etwa 73 Millionen gesetzlich Krankenversicherten entspricht.

Dabei könnte eine flächendeckendere Etablierung der ePA nicht nur die seit Jahren lahmende Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens voranbringen, sie würde auch erhebliche Kosteneinsparungen ermöglichen. Experten sprechen von einem allgemeinen Einsparpotential im Zuge der Digitalisierung des Gesundheitswesens in Höhe von 42 Milliarden Euro.

II. Vorhaben der Bundesregierung

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Bundesregierung dem Neustart der ePA im Rahmen ihrer Digitalisierungsstrategie große Bedeutung beimisst und ihre Nutzung attraktiver und zum Regelfall werden lassen möchte. Hierauf verständigten sich die Regierungsparteien bereits im Koalitionsvertrag. Nach Veröffentlichung der Digitalisierungsstrategie folgen nun zwei Gesetze, mit denen diese Strategie umgesetzt werden soll: das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digitalgesetz) und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG).

Am 13. Juli 2023 legte das Bundesministerium für Gesundheit einen ersten Referentenentwurf für ein Digitalgesetz vor. Dieses stellt das Herzstück der Digitalisierungsstrategie dar und schafft die Rahmenbedingungen zur flächendeckenden Etablierung der ePA. Als Kernelement sieht es eine Abkehr von der Antragslösung hin zu einer Widerspruchslösung vor, wonach jeder gesetzlich Krankenversicherte ab dem 15. Januar 2025 unaufgefordert eine ePA erhalten soll, solange er dem nicht widerspricht (sog. Opt-Out-Verfahren). Hierüber sollen die Versicherten im Vorfeld durch die Krankenkassen informiert werden. Die Führung der ePA würde damit auch weiterhin freiwillig bleiben, es bedürfte nur eben eines aktiven Tätigwerdens des Versicherten, wenn er keine ePA wünscht.

Ein Widerspruch soll dabei auf jeder der folgenden vier Stufen möglich sein, wobei der Versicherte die Datennutzung nicht nur vollständig einschränken, sondern auch inhaltlich oder zeitlich beschränken können soll:

  • Stufe 1: Einrichtung der ePA als solche
  • Stufe 2: Datenspeicherung durch Ärzte
  • Stufe 3: Zugriff auf die Daten durch Ärzte und Leistungserbring
  • Stufe 4: Pseudonymisierte Verwendung der Daten zu Forschungszwecken

Daneben soll die elektronische Patientenkurzakte (ePKA) und der elektronische Medikationsplan (eMP) als strukturierte Datensätze in die ePA integriert werden, sodass diese künftig keine eigenständigen Anwendungen mehr darstellen, sondern zu einem einzigen umfangreichen Dienst vereinigt werden. Außerdem ist die Schaffung eines Digitalbeirats für die Gematik vorgesehen, bestehend aus Datenschützern, Vertretern der Medizin und Ethik. In den Prozess einbezogen werden müssen ferner das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Die Gematik soll von diesem Gremium zu Fragen des Datenschutzes, der Datensicherheit, der Datennutzung und der Anwenderfreundlichkeit beraten werden. Um den Strategiewechsel zeitlich voranzutreiben, soll die Gematik neben dem laufenden Gesetzgebungsverfahren bereits an der technischen Verwirklichung arbeiten.

In der praktischen Umsetzung soll die Erstbefüllung der ePA durch die Krankenkassen erfolgen, die die analog zur Verfügung stehenden Akten einscannen und in die ePA aufnehmen. Hierauf soll der Versicherte einen Anspruch haben, wobei dieser - zur Entlastung der Krankenkassen - auf zehn Dokumente pro Antrag begrenzt werden und nur zweimal pro Jahr bestehen soll. Als Kompensation hierfür sollen die Krankenkassen eine Vergütung erhalten. Das Bundesministerium für Gesundheit rechnet dafür auf zwei Jahre gesehen mit Ausgaben in Höhe von 146 Millionen Euro.

Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz soll eine taugliche Rechtsgrundlage dafür geschaffen werden, die Forschung auf Basis der Gesundheitsdaten zu erleichtern. Hierfür soll eine zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle aufgebaut werden. Die Gesundheitsdaten sollen stets pseudonymisiert werden, der Widerspruch zur Datenfreigabe zu Forschungszwecken soll über die ePA-App erfolgen können.

III.   Bewertung und Ausblick

Mit Einführung des Opt-Out-Verfahrens geht der Gesetzgeber einen Weg, wie er seit Jahren beim Thema der Organspende diskutiert wird. Insoweit könnte dieses Vorhaben auch als eine Art Generalprobe für vergleichbare Strategiewechsel bei anderen Themen herhalten.

Für die gesellschaftliche Akzeptanz einer solchen Verordnung „von oben“ dürfte in erster Linie eine datenschutzkonforme Ausgestaltung der ePA entscheidend sein. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat datenschutzrechtliche Bedenken hinsichtlich des Opt-Out Verfahrens jüngst zurückgewiesen, es komme auf die finale Ausgestaltung des Widerspruchsrechts an. Die in der ePA gespeicherten Daten werden jedenfalls verschlüsselt auf Servern in Deutschland gespeichert und unterfallen damit dem Anwendungsbereich der DSGVO. Zudem haben die Anbieter der ePA-Apps keinen Zugriff auf die Daten. Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass ca. 20 % der Versicherten der ePA widersprechen werden.

Ob die ePA künftig auch tatsächlich vermehrt genutzt wird, dürfte davon abhängen, wie nutzerfreundlich sie ausgestaltet wird. Jedenfalls für Versicherte ohne Tablet oder Smartphone wird sich dies schwieriger gestalten. Sie könnten allenfalls Dritte bevollmächtigen, die Akte über eine App einzusehen oder einen stationären PC nutzen.

Aus Sicht der Forschung könnte dieser Strategiewechsel ein tatsächlicher Game-Changer sein, wenn zur Erlangung von Daten nicht mehr die explizite Einholung einer „breiten Einwilligung“ erforderlich ist.

Kritik kommt von Seiten der Krankenkassen hinsichtlich ihrer Zuständigkeit für die Erstbefüllung der ePA. Der Gesetzgeber versucht dem jedenfalls durch eine Begrenzung des Anspruchs der Versicherten und der finanziellen Kompensation entgegenzuwirken. Ob und inwieweit dies die Krankenkassen besänftigen wird, bleibt abzuwarten.

Mit dem Referentenentwurf ist jetzt zumindest ein erster Schritt in Richtung Neustart der ePA gemacht. Der Referentenentwurf befindet sich derzeit in der Verbändeanhörung. Danach hat er noch einen langen Weg vor sich, wobei zu erwarten ist, dass auch hier das „Struck’sche Gesetz“ zur Anwendung gelangen wird: Wie auch immer die letztlich in den Bundestag eingebrachte Fassung des Gesetzentwurfes aussehen wird, sie wird den Bundestag nicht genauso verlassen.

Sie haben Fragen rund um das Thema ePA? Dann sprechen Sie uns gerne an!

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